llse Aichinger (* 1. November 1921 in Wien; † 11. November 2016) war eine österreichische Schriftstellerin. Sie gilt als bedeutende Repräsentantin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.
Das Stille, Beobachtende und Absurde macht das Geheimnis von Ilse Aichingers Poesie aus, das die Filmbilder von WO ICH WOHNE bewahren. Figuren aus Erzählungen werden lebendig in einem Haus, dessen Stockwerke scheinbar nach unten sinken. Auch die von Ilse Aichinger gedrehten, nie gezeigten Super-8-Filme halten das Erstaunen darüber wach, dass wir uns vorfinden, und wie wir uns vorfinden.
Der Film verführt auf sinnliche Weise, sich auf das Werk von Ilse Aichinger einzulassen, welches in seiner Einzigartigkeit für das 20. Jahrhundert steht und zugleich in seiner existentiellen Dimension zeitlos ist.
„Schweigen, das Wort mag ich nicht, und ich verstehe nicht, warum es immer auf mich angewendet wird. Ich habe ja auch einmal gesagt. Schreiben ist Sterben lernen. Sich hineinbegeben, nicht von sich sprechen. Das empfinde ich manchmal als eine Tarnkappe, die mich verbirgt. Ich möchte um alles in der Welt nichts, das mich darstellt oder ins Licht bringt. Ich will eher etwas, das mich verbirgt und eben doch das enthält, was mir wesentlich ist, nicht das „Ich“, sondern das, was mir wesentlich ist.“ ~ Ilse Aichinger
In dem Film WO ICH WOHNE ist die Schriftstellerin Ilse Aichinger Protagonistin und Zuschauerin zugleich: Ihre Erzählung „Wo ich wohne“ wird zum Kristallisationspunkt von Werk und Person Ilse Aichingers. In der Geschichte des Filmes sinkt die Wohnung einer Frau unverändert ein Stockwerk tiefer. Schließlich landet sie im Keller. Die Umgebung der Frau scheint nicht zu bemerken, was sich ereignet.
In den dramatischen Verlauf der Geschichte hineinverwoben sind Bilder von den Orten, die Ilse Aichingers Schreiben bestimmten: ein Haus, in dem sie einmal wohnte, und in dem sich die absurd-surreale Erzählung „Wo ich wohne“ für sie ereignete; die Stadt Wien, deren Gassen und Straßen Ilse Aichinger täglich durchmaß: die Orte, die an den Verlust der Familie erinnern, die 1943 in ein Todeslager deportiert wurden. Des weiteren englische Stadt-Landschaften, die sie als Sehnsuchts-Orte ihrem Werk eingeschrieben haben, da die Rettung nach England nur der Zwillingsschwester Helga mit einem Kindertransport gelang. Biografische Erinnerungen treten in Beziehung zur Fiktion und zu Ilse Aichingers – zum ersten Mal veröffentlichten - Super-8-Filmen, die sie in den 60er Jahren selbst gedreht hat.
HINTERGRUND
Christine Nagel lernte Ilse Aichinger bei einer gemeinsamen Hörspiel-Arbeit im Jahr 2001 kennen - ein halbes Jahr vor ihrem 80.Geburtstag, als die Schriftstellerin noch täglich durch Wien zog, jede Gasse kennend, und am Abend in bis zu drei Kinos ihre Zeit verbrachte - der Stadtraum Wien war ihr Zuhause geworden. Der erste Besuch bei Ilse Aichinger dauerte länger als gedacht, und führte dazu, daß die Filmemacherin über viele Jahre hinweg die Autorin besuchte – bis heute. Sie teilten Zeit und Raum im Kinosaal, der für Ilse Aichinger die ersehnte Möglichkeit war „zu verschwinden“. Sie zogen von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, an Orten und Plätzen vorbei, die Ilse Aichinger prägten.
Wien bildet den zentralen Bezugspunkt in Ilse Aichingers Werk – in die Topografie dieser Stadt sind ihre Erinnerungen eingeschrieben, die „äußerste Geborgenheit“ der Kindheit ebenso, wie die „äußerste Bedrängnis“ der Kriegszeit, als ihre jüdischen Verwandten deportiert wurden, und sie die Stadt als „Mischling ersten Grades“ nicht verlassen durfte. Ausgelöst von der Betrachtung eines Details, eines Brunnens, eines Ladens, holt Ilse Aichinger in ihren Prosagedichten vergangene Erlebnisse hervor.
Die Erfahrung, mit Ilse Aichinger Wien zu betrachten, ist eingegangen in den Film WO ICH WOHNE - die Wege der Autorin in der Stadt, ihr Radius um die Stadtmitte herum und in sie hinein. Die Kurzgeschichte WO ICH WOHNE erschien rückblickend als Parabel auf Ilse Aichingers Leben im Wien der Kriegs- und Nachkriegsjahre. So war es naheliegend, fiktionales Werk mit dokumentarischen Bildern in einem Film zu verschränken.
Die Filmbilder sind tief verwachsen in der bildreichen Sprache von Ilse Aichinger, ihren Motiven, ihrem existentiellen Fragen: Wie geht das: Weiterleben? - nach der Erfahrung des Verlustes nahezu aller Familienmitglieder im Holocaust? - mit der Skepsis gegenüber einer Welt, die das Bewusstsein des Abschieds dem täglichen Erleben eingebrannt hat?
In dem Film sind zum ersten Mal Auszüge aus dem Briefwechsel der beiden Zwillingsschwestern Ilse und Helga Aichinger zu hören, die durch den Holocaust getrennt worden waren: während Ilse Aichinger die Bedrohung hautnah täglich miterlebte, und wie durch ein Wunder mit ihrer Mutter in Wien überlebte, war Helga Aichinger-Michie mit einem Kindertransport nach London entkommen. England wird zum Sehnsuchtsort in Ilse Aichingers Schreiben.
Bisher nie veröffentlichte Super-8-Filme, die Ilse Aichinger in den 60er/70er Jahren an ihrem damaligen Wohnort Großgmain und in Wien selbst gedreht hat, ergänzen als „Blitzlichter der Erinnerung“ die Filmerzählung.
„Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf. Die Wiederholung gibt nur den Rhythmus an." ~ Ilse Aichinger, 1951